Was genau man unter Genitalverstümmelung versteht, warum die Praxis in vielen Ländern trotz Verboten immer noch existiert und welche Ansätze wir im Aktivismus verfolgen können, erklärt Hebamme Bettina Ratzberger.
Laut UNICEF sind etwa 230 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung beziehungsweise female genital mutilation (kurz FGM) betroffen – also von der partiellen oder vollständigen Entfernung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane oder deren „Verändern“ ohne medizinische Notwendigkeit.
Zeitlich und geografisch lassen sich die Ursprünge nicht mehr genau zurückverfolgen, die Praxis wird jedoch in Aufzeichnungen aus dem Alten Ägypten erwähnt, und von dort aus hat sie sich mutmaßlich verbreitet.
Die WHO definiert vier Formen:
- FGM Typ I (auch: „Klitoridektomie“ oder „Sunna-Beschneidung“): Der äußere Teils der Klitoris bzw. der Klitorisvorhaut wird teilweise oder vollständig entfernt.
- FGM Typ II: Ein Teil der Klitoris und der kleinen Vulvalippen wird entfernt, die großen Vulvalippen bleiben.
- FGM Typ III (auch „Infibulation“ oder „Pharaonische Beschneidung“): Die äußeren Geschlechtsteile werden teilweise oder komplett entfernt. Danach erfolgt eine Verengung der Vaginalöffnung, zuletzt werden die Wundränder zusammengenäht und ein deckender, narbiger Hautverschluss entsteht. Es bleibt nur noch eine kleine Öffnung zum Abfluss von Urin und Menstruationsblut.
- FGM Typ IV: Alle übrigen Schädigungen weiblicher Genitalien ohne medizinische Not
Die potentiellen Folgen für Betroffene hängen davon ab, welcher Typ durchgeführt wurde – und unter welchen Bedingungen. Die schwerstwiegende Form ist FGM Typ 3 – diese führt zu den schlimmsten Komplikationen bei Menstruation, Sexualität und Geburt und oft auch Folgeinfektionen. Doch auch bei anderen Typen können Frauen unter großen Schmerzen bei der Menstruation, beim Urinieren oder beim Geschlechtsverkehr leiden. Viele Frauen brauchen daher viele Schmerzmittel, was wiederum organschädigend wirkt.
Erschwerend kommt noch dazu, dass die Beschneidungen oft nicht unter sterilen Bedingungen, sondern etwa mit Glasscherben durchgeführt werden, weshalb auch viele Mädchen in Folge an Blutverlust oder Infektionen sterben oder etwa mit HIV infiziert werden. Es gibt zwar Länder, wie Malaysia, wo es zunehmend an Kliniken von Gesundheitspersonal gemacht wird, doch während das für die einzelnen Frauen sicherer ist, führt es auch zu einer gesamtgesellschaftlichen Institutionalisierung der Praxis.
Die meisten Betroffenen sind in der oberen Hälfte des afrikanischen Kontinents, auch in Teilen Asiens (etwa Malaysia oder dem Irak), und durch Migrations- und Fluchtbewegungen gibt es auch Betroffene in Europa. Meistens werden Mädchen in der frühen Kindheit oder im Jugendalter beschnitten, in manchen Fällen geschieht der Eingriff bereits bei Neugeborenen. Dabei handelt es sich eher um eine soziale Tradition als um ein religiöses Ritual – obwohl FGM oft mit dem Islam assoziiert wird, gibt es die Praxis auch in manchen christlichen, jüdischen oder indigenen Minderheiten, und im Islam selbst ist sie umstritten; im Koran findet sich nichts dazu, und die überlieferten Aussagen des Propheten Mohammed sind nicht eindeutig, sondern je nach Auslegung duldend oder ablehnend.
Warum es gemacht wird, ist gewissermaßen eine Frage der Perspektive: Aus europäischer Sicht sprechen wir davon, dass durch Genitalverstümmelung die Sexualität von Frauen kontrolliert werden soll. Aus Sicht der Gemeinschaften, in denen sie praktiziert wird, erfolgt es zum Schutz der Frauen. In extrem patriarchalen Strukturen, in denen Frauen heiraten müssen, um ökonomisch abgesichert zu sein und in denen Konzepten wie Reinheit und Jungfräulichkeit eine riesige Bedeutung zukommt, fungiert eine Verstümmelung der Klitoris insofern eine Absicherung für die Frau, weil sie nie in Versuchung kommt, ihre Sexualität zu erkunden und so am Heiratsmarkt vermarktbar bleibt. Wenn man am Heiratsmarkt interessanter ist, bekommt die Familie der Braut auch mehr Brautgeld, was als eine Art Lebensversicherung für die Frau dient. In solchen Strukturen werden nicht beschnittene Frauen oft sogar als unmoralisch oder schmutzig angesehen.
Das ist ein Zeichen für ein sehr bestimmtes Frauenbild: Als Mädchen in solchen Gemeinschaften geboren zu werden heißt, von Kindesalter an vorwiegend oder ausschließlich als zukünftige Ehefrau und Mutter gesehen zu werden. Weibliche Lust ist nicht nur unbedeutend, sie wird als gefährlich für die Frau und ihre ganze Familie gesehen.
Wie fest verankert diese Rollen sind, sieht man aber auch daran, dass es traditionellerweise Frauen sind, die diese Praxis weiterführen – und es sich somit um einen der wenigen Berufe handelt, denen Frauen in diesen Regionen nachgehen können.
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