Warum in Südkorea im Dezember das Kriegsrecht verhängt wurde, welche Parallelen es in der südkoreanischen Geschichte gibt und warum die Situation ein Warnsignal für westliche Demokratien ist, erklärt die Ostasienexpertin Canan Kus.
In Südkorea herrscht Anfang Dezember für kurze Zeit absoluter Ausnahmezustand: Präsident Yoon rief am 3. Dezember überraschend das Kriegsrecht aus. Darauf folgten Proteste; nur wenige Stunden später hob das Parlament das Kriegsrecht auf, während Yoons Soldaten versuchten, sich Zutritt zum Parlamentsgebäude zu verschaffen. Er selbst verschanzte sich mithilfe von Polizei, Militär und tausenden Anhänger:innen in der Präsidialresidenz, die Gesellschaft reagierte mit Großprotesten. Schon am 6. Dezember stimmte auch seine Partei für seine Enthebung und der Druck der Bevölkerung wurde schließlich so groß, dass sogar Polizei und Militär abzogen und Yoon Mitte Jänner verhaftet werden konnte. Nun laufen gegen ihn Verfahren wegen Machtmissbrauch, Verfassungsbruch und versuchtem Staatsstreich.
Wer, was, wo, wie und warum ist Südkorea?
Südkorea ist in Europa vielleicht hauptsächlich als westliche Demokratie (und Herkunftsland von K-Pop) bekannt, tatsächlich ist die Demokratie aber noch keine vierzig Jahre jung. Die Geschichte spielt dabei für die Reaktion auf Yoons Handeln eine große Rolle. 1980 nutzte Geheimdienstgeneral Chun Doo-hwan das politische Chaos (infolge der Ermordung des Diktators) für einen Militärputsch und verhängte das Kriegsrecht, mit Verweis auf pro-nordkoreanische Kräfte, um alle politischen Aktivitäten zu verbieten, Oppositionelle und Aktivist:innen zu verhaften und das Parlament aufzulösen. Mit fatalen Folgen: In der Stadt Gwangju umstellte das Militär die studentischen Proteste und eröffnete das Feuer. Hunderte Menschen wurden dabei getötet und trotz Zensur verbreiteten sich Bilder dieses Gemetzels in der Bevölkerung. Sieben Jahre später, im Jahr 1987, endete die Militärdiktatur nach jahrelangen Protesten und Aufständen.
Nun hat Südkorea ein präsidentielles Regierungssystem à la USA: mit starkem Staatsoberhaupt, einer Nationalversammlung mit direkt gewählten Abgeordnen und zwei dominierenden Parteien. Die Partei von nun Altpräsidenten Yoon Suk Yeol, die wertekonservative, wirtschaftsliberale People Power Party (국민의힘), steht für einen harten Kurs gegenüber Nordkorea. Doch die Mehrheit in der Nationalversammlung hat die sozialstaatliche Demokratische Partei Koreas (더불어민주당), die für eine diplomatische Annäherung mit Nordkorea ist.
Ein politisch gespaltenes Land
Abgesehen von der politischen Polarisierung hat Südkorea auch mit zwei tiefgreifenden gesellschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen: Südkoreas wirtschaftlicher Erfolg beruht auf extremer sozialer Ungleichheit und arbeitnehmer:innenfeindlicher Arbeitspolitik Gewerkschaften. Außerdem hat Südkorea mit Japan gemeinsam die niedrigste Geburtenrate der Welt. Südkorea ist ein sehr patriarchales Land, in dem von Frauen erwartet wird, traditionellen Werten zu entsprechen, und es gibt es wenig Unterstützung für arbeitende Mütter. Dazu kommen starke Konkurrenz und Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt, weshalb sich viele Frauen zwischen Karriere und Familie entscheiden müssen.
Was führte zum Ausrufen des Kriegsrechts?
1) Die Nordkorea-Frage
Die Demokratische Partei Koreas setzt sich in der Nationalversammlung regelmäßig dafür ein, einen diplomatischen Zugang im Umgang mit Nordkorea zu wählen. Altpräsident Yoon wies diese Vorschläge auch mit dem Argument zurück, die Freiheit der Republik werde durch solch kommunistische Einflüsse bedroht. Als er das Kriegsrecht ausrief, verwies er auf die Notwendigkeit „pro-nordkoreanische Kräfte im Land zu entfernen“.
2) Der Haushalt
Altpräsident Yoon und die Nationalversammlung konnten sich nicht auf einen Haushaltsplan 2025 einigen – er wollte Budget von sozialen Agenden zu Geheimdiensten und Polizei umschichten, während die – wie erwähnt mehrheitlich oppositionell besetzte – Nationalversammlung seine Vorschläge blockierte und stattdessen mehr Budget für Bildung und Wohnbau bereitstellen wollte. Yoon sah das einerseits als persönlichen Angriff auf ihn selbst, aber auch als Gefahr für die Wirtschaft und Sicherheit des Landes.
3) Konflikte mit der Gewerkschaft
In den vergangenen Monaten stellten sich die Gewerkschaften, insbesondere die über eine Million starke KTCU, verstärkt gegen Yoons Politik und organisierten Generalstreiks, etwa im Eisenbahn- und Bildungssektor. Das wertete Yoon ebenfalls als persönlichen Angriff, präsentierte Gewerkschaften und Opposition aber auch als destabilisierende Kräfte, die für eine existentielle Krise des Landes verantwortlich seien.
Nur, weil ein Präsident abgesetzt wurde, sind die Konflikte der vergangenen Monate und auch die tieferliegenden Ursachen nicht weg. Wahrscheinlich wird die Nationalversammlung die Lage nun stabilisieren, doch die Probleme, die den Konflikten zugrunde liegen, werden weiterbestehen. Man darf jedoch die konservativen autoritären Kräfte nicht unterschätzen: das Militär hat den versuchten Putsch großteils mitgetragen und nur durch erhebliche Druckausübung vonseiten der Bevölkerung aufgegeben. Eine Gegenreaktion dieser Kräfte ist also durchaus denkbar. Natürlich ist es auch möglich, dass nun gesellschaftlicher Wandel eingeleitet wird, das erfordert jedoch viel Ausdauer der Gewerkschaften und Bevölkerung, den Druck auf die Politik aufrechtzuhalten.
Die Demokratie muss verteidigt werden
Doch warum ist ein innenpolitischer Konflikt auch außerhalb von Südkorea relevant? Südkorea ist geografisch und geopolitisch eine Schlüsselfigur: Es liegt zwischen China, Japan und den USA. In der Indo-Pazifik-Region, wo es liegt, entstehen über 60 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und entscheidende Handelsrouten verlaufen hier. Wirtschaftlich ist Südkorea eine Großmacht und China ist sein größter Handelspartner. Gleichzeitig ist es sicherheitspolitisch abhängig von den USA, die seit dem Koreakrieg dort eine große Militärbasis unterhalten. Südkorea muss also ständig zwischen zwei Großmächten balancieren, deren Verhältnis sich in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert hat. Instabilität in Südkorea kann umgekehrt also auch Auswirkungen auf die ganze Region haben. Die USA ist dabei stärker auf politische Stabilität in Südkorea angewiesen, als China es ist: Südkorea ist einer der wichtigsten Nicht-NATO-Verbündeten der USA und ist zentraler Teil der US-Sicherheitsstrategie für Asien, als strategischer Vorposten, der US-Interessen vertritt und auch einen Gegenpol zu China bietet.
Außerdem hält diese Staatskrise anderen demokratischen Ländern einen Spiegel vor: Konservative und autoritäre Kräfte erstarken zurzeit überall, und gesellschaftliche Spaltung und schwächelnde demokratische Systeme, die es immer schlechter schaffen, auf Krisen zu reagieren, kennen wir auch im Westen. Wenn eine starke Demokratie wie Südkorea, mit starken Institutionen und stabiler Wirtschaftslage, politisch ins Wanken geraten kann, dann muss es ein Warnsignal sein, dass wir die Demokratie nicht als selbstverständlich ansehen, sondern immer wieder verteidigen müssen, um grundlegende Spaltungen zu beseitigen und sie vor autoritären Kräften zu schützen.
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