Wie es zum Scheitern der Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS kam, ob die ÖVP mit dieser Koalition sich selbst und die politische Kultur in Österreich zerstört und warum wirtschaftspolitisch zwischen ÖVP und FPÖ kein Blatt passt, erklärt Marcel Andreu.
Es war der innenpolitische Paukenschlag Anfang Jänner: Die Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS scheiterten, Bundeskanzler Nehammer trat als Parteichef zurück und FPÖ-Chef Kickl bekam dann doch den Regierungsbildungsauftrag.
ÖVP und NEOS geben die Schuld Andreas Babler, der aus linkem Idealismus heraus zu wenig kompromissbereit gewesen sei. Tatsächlich rückte die SPÖ in den Verhandlungen aber von ihren großen Wahlversprechen ab (etwa von Vermögens- und Erbschaftssteuer). Das Scheitern der Verhandlungen liegt weniger am Rückgrat der SPÖ und mehr am Wirtschaftsflügel der ÖVP: Dieser hat für Verhandlungen zu Blau-Schwarz und gegen eine Budgetsanierung auf Kosten seiner Profite interveniert.
ÖVP als Steigbügelhalter für die Rechtsextremen
Es ist nicht das erste Mal, dass die ÖVP eine Koalitionsverhandlung platzen lässt und dann als Juniorpartner mit der FPÖ koaliert. Genau das Gleiche geschah im Jahr 2000 unter Wolfgang Schüssel, der nach monatelangen Verhandlungen mit der SPÖ doch mit der FPÖ koalierte. Doch damals war die ÖVP in einer deutlich besseren Verhandlungsposition und konnte sogar als Juniorpartner trotzdem den Bundeskanzlersessel für sich beanspruchen. Darauf wird der neue ÖVP-Chef, Christian Stocker, verzichten müssen. Stattdessen wird, zum ersten Mal in der Zweiten Republik, die FPÖ mit Herbert Kickl den Kanzler stellen.
Zumindest symbolisch ist ein rechtsextremer Kanzler mit engen Verbindungen zur rechtsradikalen Szene in Österreich und zu den Autoritären Europas ein großer Umbruch in der politischen Kultur Österreichs. Auch die ÖVP stellt Kickl seit Jahren als gefährlichen Extremisten dar, und sowohl Altkanzler Karl Nehammer als auch sein Nachfolger Christian Stocker schlossen im Wahlkampf eine Koalition mit Kickl spezifisch aus. Doch dass die FPÖ Kickl für eine Koalition opfern würde, war nie wahrscheinlich, und durch den Wahlerfolg wurde ihm zusätzlich der Rücken gestärkt. Stattdessen hat die ÖVP es aufgegeben, so zu tun, als gäbe es so viele unüberwindbare Unterschiede zur „Kickl-FPÖ“.
Die wirtschaftsnahe FPÖ
Politisch und inhaltlich ist es nämlich kein großer Umbruch: Die beiden Parteien koalieren in einigen Bundesländern miteinander, seit Herbst vergangenen Jahres in der Steiermark sogar mit der FPÖ als Seniorpartner. Und auch wo und wenn die FPÖ nicht in Regierungsverantwortung war, hat sie es in den letzten Jahrzehnten gut geschafft, Ton und Themen in der österreichischen Politik maßgeblich zu beeinflussen. Am „Integrationskapitel“ der Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS zeigt sich z.B. deutlich, dass es für rassistische Politik in Österreich inzwischen überparteilichen Konsens gibt.
Zwischen FPÖ und ÖVP sind die inhaltlichen Differenzen noch kleiner. Die österreichische Wirtschaft schwächelt zurzeit – woran Schwarz-Grün nicht unschuldig sind, die es nicht geschafft haben, den österreichischen Standort vor den negativen Auswirkungen der Inflation zu schützen – und es gibt global einen nationalistischen Rückzug. Dass der ÖVP-Wirtschaftsflügel ein so großer Fan des Projekts ist, ist ein Zeichen für die wirtschaftspolitische Kompatibilität.
Kickl umgibt sich mittlerweile auch mit wirtschaftsnahen Menschen und seine punktuell spendierfreudigen Positionen zum Thema Entlastung für die Bevölkerung schwächte er schon vor der Wahl ab. Das neue, stark von der radikalliberalen Ökonomin Barbara Kolm geprägte, FPÖ-Wirtschaftsprogramm ist bewusst ÖVP-nah gestaltet. Es war wohl ein Balanceakt. Kolm ist es vermutlich nicht radikal genug, gleichzeitig steht es auch in seiner jetztigen Form schon teilweise im Widerspruch zu Kickls Rhetorik. Herausgekommen ist der Mittelweg in Form eines klassisch neoliberalen Programms: Schrittweise soll durch Steuersenkungen der Konsum angekurbelt und so mehr Steuergeld generiert werden; also die von linken Ökonom:innen lange hinterfragte Annahme von den sich selbst finanzierenden Steuergeschenken. Die FPÖ hat auch einige Steuerzuckerl an Unternehmen im Programm, etwa bei Unternehmensgewinnen. Angesichts dessen kann der ÖVP-Wirtschaftsflügel über ein paar arbeiter:innenfreundlichere Forderungen (wie einen Preisdeckel für Grundnahrungsmittel), die noch dazu als standortaufwertende Inflationsmaßnahmen präsentiert werden, wohl hinwegsehen.
Eine Koalition mit der FPÖ bietet der österreichischen Wirtschaft auch die Möglichkeit, sich wieder ein wenig an Russland anzunähern, was für schon in der Vergangenheit sehr profitabel war. Dazu kommt noch die Energiewende, vor der man sich unter der FPÖ auch nicht fürchten muss. Denn kurzfristig ist es profitabler, sie hintanzusetzen: Unternehmen sparen sich teure Investitionskosten, der Staat spart sich Fördergelder. Dafür können Unternehmen und Reiche stärker und schneller entlastet werden, statt dass die Budgetsanierung auf Kosten ihrer Vermögen oder Profite geschieht. Hier passt zwischen die Parteien kein Blatt.
Selbstzertörung der ÖVP?
Die ÖVP ist schon seit einigen Jahrzehnten eine Wirtschaftspartei. Im Westen Österreichs gibt es zwar noch schwarze Arbeiterkammer-Fürsten, die sich gegen die Koalition aussprechen, aber das ist nicht die Mehrheit der ÖVP. Obwohl über diese Koalition sicher nicht alle so erfreut sind, wie der Wirtschaftsbund, ist sie trotzdem für die meisten unter lauter schlechten Optionen die am wenigsten schlechte. Die einzige große Veränderung im letzten Jahrzehnt ist im christlichsozialen Flügel der ÖVP, der politisch nun heimatlos ist. 2015 waren viele Menschen aus der ÖVP-Basis und manche aus der Spitze sehr in der Flüchtlingsbewegung engagiert; das war schon unter Sebastian Kurz etwas anders und ist heute schwer denkbar.
Auch überparteilich betrachtet ist die ÖVP nicht am Rande des Zusammenbruchs: insbesondere am Land ist sie gut verankert und bei Bauern, aber auch Businessleuten die erste Wahl. Doch Großparteien sind gerade tatsächlich am Abstieg. Und durch die verstärkte Annäherung an die FPÖ schneidet sich die ÖVP ins eigene Fleisch, da viele Menschen dann einfach FPÖ wählen.
Kickls langfristige Strategie
Die FPÖ ist hingegen am aufsteigenden Ast: Ihr erster Aufstieg war in den 80er-Jahren unter Jörg Haider, nachdem das Modell von Massenkonsum und Vollbeschäftigung wirtschaftlich ins Wanken kam und in Folge die Flexibilisierung und Deindustrialisierung der Arbeitswelt den klassischen Volksparteien schadete. Seither ist sie am Wachsen und spätestens mit der Wahl im Herbst auch wirklich zur Volkspartei geworden: Ihre Wählerschaft besteht nicht mehr aus jungen Männer ohne Matura, sondern findet sich in der gesamten Bevölkerung. Diesen Wählerstamm muss sie nun binden. Und bis Kickl auch die Eliten hinter sich versammeln und den Platz der ÖVP einnehmen kann, hat die FPÖ noch Einiges an Aufholarbeit vor sich.
Nun kommt sie in Regierungsverantwortung und Vieles, was Kickl vielleicht gerne tun würde, wird er im derzeitigen Kräfteverhältnis nicht tun können. Und eine großangelegte rassistische Umverteilung wird am Verfassungsrecht scheitern. Das unvermeidliche Budgetloch wird daher erfahrungsgemäß auf Kosten der Lohnarbeiter:innen gestopft werden. Die FPÖ wird das – und (nicht zu Unrecht) die budgetäre Schieflage allgemein – auf die ÖVP schieben, ihre Wählerschaft mit rassistischer und anti-woker Hetze beschwichtigen und versuchen, die arbeiter:innenfeindlichen Maßnahmen als „Belohnungssystem für die Fleißigen“ zu verkaufen; nach dem Motto „Wer arm ist, war nicht fleißig genug und ist selbst schuld“. Auch hier stehen sich FPÖ und ÖVP ideologisch nahe. Die FPÖ lehnt die Aufteilung in Arbeiternehmer:in und Arbeitgeber:in generell ab; alle seien ihre eigenen Arbeitgeber:innen. Wie zurzeit beim argentinischen Präsident Javier Milei, der alle Sozialleistungen streicht, um den Menschen die Freiheit der Selbstständigkeit als „eigener Unternehmer“ am freien Markt zu schenken.
Falls Kickl einen umfassenden autoritären Staatsumbau Österreichs nach ungarischem Vorbild anstrebt, würde das die ÖVP nicht in der Gänze mittragen. Die FPÖ allein hat nur knappe 30 Prozent der Stimmen und auch mit der ÖVP keine Verfassungsmehrheit. Auch in der EU wird Kickl zwar laut sein, aber sich nur so weit mit ihr anlegen, dass es Unternehmer nicht zu viel kostet. Denn als Kanzler hat Kickl nicht nur mehr Kompetenzen, ihm wird auch von den Eliten stärker auf die Finger geschaut werden, damit die Rechnung für sie am Ende aufgeht.
Alles für den Wirtschaftsstandort Österreich
Gleichzeitig greift das Bild des wohlgenährten Boss mit Zigarre im Mund, der Kickl (oder die FPÖ) steuert, zu kurz. Im österreichischen Parlament sitzt keine Partei, die sich nicht am Kapital ausrichtet, denn ein bürgerlicher Staat wie Österreich lebt von seinem Wirtschaftsstandort. Von Leuten, die einen Job haben, und von Unternehmen, die Gewinne machen, lassen sich mehr Steuern eintreiben und wenn der Finanzmarkt den Standort als konkurrenzfähig und seine Anlagen als sicher betrachtet, bekommt der Staat Kredite zu besseren Konditionen. Der Unterschied zwischen den Parteien besteht darin, wie die Standortförderung betrieben wird.
SPÖ und Gewerkschaften versuchen, Standortförderung mit Wohlfahrt zu vereinen. Leute, die von ihrem Lohn leben können, konsumieren mehr und kurbeln so die Wirtschaft an; fast alles, was gut für die Menschen ist (Gesundheit, Bildung, sozialer Frieden etc.), ist auch gut für die Wirtschaft. Ein gutes Leben für Arbeiter:innen wird dabei nur als nettes Abfallprodukt der besseren Kapitalvermehrung dargestellt.
Beim rechten Gegenpol der Standortförderung hingegen geht es nur um höhere Gewinne für Kapitalist:innen. Auf Löhne und Abgaben haben sie politisch mehr Einfluss, als auf andere Hindernisse (etwa das Fehlen billigen russischen Gases oder das Schwächeln eines Kunden wie der deutschen Autoindustrie), also pressen sie die Arbeitenden stärker aus und drücken Löhne, um Lohnstückkosten zu senken und die Konkurrenz auszustechen. Laut der Industriellen ist das notwendig, weil Österreich eine stark exportorientierte Wirtschaft hat und am Weltmarkt bestehen muss. Das greift jedoch zu kurz, denn sie wollen niedrigere Löhne auch wenn sie wirtschaftlich gut dastehen oder ihre Probleme ganz andere Ursprünge haben.
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